2015:
Diese Geschichte handelt von einem kleinen Jungen in Buenos Aires. Er heißt Ismael und hat es nicht ganz leicht. Ich werde keine Fotos von ihm posten. Stellen Sie sich ihn so vor: Er ist klein, sportlich, und er hat dickes schwarzes Haar, das strubbelig nach allen Seiten absteht. Seine Augen sind dunkel. Ismael wird im Sommer sehr schnell braun.
Chipá, chipá, chipaaaa! Vom Lehren und Lieben in einem Elendsviertel
Wütend funkelt er mich an
Dann dreht er sich um und zeigt den anderen Jungen im Raum, wer hier heute der Boss ist. Gerade bin ich durch die Tür des “Comedor” – einer Suppenküche – in einem der größten Elendsviertel von Buenos Aires getreten. Es handelt sich um ein kleines, unfertiges Haus, in dessen Erdgeschoss sich eine große Küche und ein kleinerer Raum mit Tischen und Stühlen befinden. Jeden Sonnabend versammeln sich hier zwischen zwölf und zwanzig Kinder, um gemeinsam zu spielen und zu frühstücken. Es gibt gekochten Mate und Vanillekekse. Es ist das, was unsere Organisation Voluntarios Sin Fronteras von den Spendengeldern gerade aufbringen kann. Und doch ist es manchmal mehr, als die Kinder zu Hause bekommen würden. Die Mütter sind glücklich, wenn sie morgens um zehn Uhr vor der schweren Eisentür stehen.
Viele Kinder kommen alleine zu uns. Ein Junge trägt seine kleine Schwester auf dem Arm. Oft stehen sie schon vor der Tür und rennen auf uns zu, um die Chance auf eine Extra-Knuddeleinheit zu nutzen. Wenn wir die Tür aufschließen und den Raum für die kommenden zwei Stunden herrichten, schlägt uns zunächst ein etwas abgestandener, fettiger Geruch entgegen. Die Inhaberin des Comedores ist eine ältere Frau, die mit ihrer Familie im gleichen Gebäude wohnt. Wo der Bereich für die Kinder aufhört und ihr Wohnbereich beginnt, habe ich nie herausgefunden. In den ersten drei Wochen schaut sie mich, die Frau mit dem starken Akzent, nur misstrauisch an. Doch als ich auch nach einem Monat immer noch dabei bin, gehöre ich zu denen, die gelegentlich mit einem Lächeln bedacht werden. Ein Ritterschlag.
Wir holen Papier und Buntstifte aus den Schränken, während sich der Raum mit Kindern füllt.
Der traurige Rabauke
“Habt ihr eure Hausaufgaben dabei?” Ismael gehört zu den Kindern, die nicht von ihren Eltern zum Comedor gebracht werden. Manchmal sehe ich ihn schon von Weitem, wenn er mit gesenktem Kopf und coolem Schritt durch die staubige Straße auf uns zukommt. “Der ist mit allen Wassern gewaschen.”, grummelt die Leiterin kurz, bevor sie sich wieder ihrer Arbeit zuwendet. Ismael ist neun.
Er freut sich nicht, wenn er durch die Tür kommt. Stattdessen knurrt er kurz und setzt sich an die äußerste Ecke des Tisches. Was los sei, frage ich ihn, doch er vergräbt seinen Kopf zwischen den Unterarmen. Nichts, kein Reden, kein Streicheln hilft.
“Du bist ja nur Peruaner”, höre ich ein kleines Mädchen zu einem Jungen sagen. Dessen schwarze Augen funkeln (ja, das können sie wirklich!).
“Ich bin Argentinier.”
“Du lügst ja, deine Eltern kommen aus Peru!”
“Aber ich bin hier geboren!”
“Du bist Peruaner.”
Die Villas von Buenos Aires
Informelle Siedlungen gibt es in aller Welt. In den Brasilien nennen sich die Elendsviertel Favelas, in Argentinien nennt man sie Villas Miserias oder einfach nur Villas. In den provisorischen Unterkünften in und um Buenos Aires leben schätzungsweise rund eine Million Menschen. Ungeklärte Eigentumsverhältnisse, fehlende Infrastruktur und praktisch keine staatliche Kontrolle bieten stattdessen Unterschlupf für kleine Drogen- und Waffenhändler, die sich die “Villeros” zur Kundschaft machen. Nicht selten betritt noch nicht einmal mehr die Polizei die namenlosen Straßen, von Feuerwehren und Rettungsdiensten ganz zu schweigen.
Etwa die Hälfte der Bewohner sind Argentinier. Unzählige Bolivianer, Peruaner und Einwanderer aus Paraguay stranden hier auf der Suche nach dem Glück, denn die argentinische Verfassung verspricht Gerechtigkeit, Freiheit und Wohlstand für alle, “… die auf argentinischem Boden leben wollen.” Viele kommen mit großen Erwartungen und halten sich zunächst mit einfachen Jobs über Wasser. Vor allem auf dem Bau oder im Reinigungsgewerbe hört man den fremden Akzent. Oft finden sie jedoch keine Arbeit. Manchmal wird ihnen unterstellt, nur auf eine kleine finanzielle Unterstützung aus zu sein, in vielen Fällen erhalten sie noch nicht einmal das. Im Westen der Hauptstadt gibt die Verwaltung jeden Tag für zwei Stunden den Zugang zur Mülldeponie frei, damit sich die Bewohner der dortigen Villa mit dem Nötigsten versorgen können. Doch ganz offensichtlich gibt es selbst unter den Gestrandeten noch immer solche, die – frei nach Orwell – die besseren Gestrandeten sind.
“Bayern München hat wieder gewonnen.”
Ismael spricht nicht mit mir. Aber er geht auch nicht, und so setze ich mich von nun an jeden Morgen neben ihn. Ich sage nichts, bin einfach nur da. Manchmal fünf Minuten, manchmal fünfzehn. Irgendwann beginnt der Kleine zu sprechen. Er wird mir nie erzählen, was gerade los war. Denn wir haben ein anderes Thema: Fußball. Ob der FC Bayern München denn auch mein Lieblingsverein sei? Sein Herz schlägt für La Boca, einen der zwei rivalisierenden Fußballclubs von Buenos Aires. Ich erfahre, dass in Ismael ein leidenschaftlicher Torwart steckt. Er malt tolle Bilder, auch für mich. Wir machen Selfies, er lacht. Doch wenn die anderen Kinder wieder von ihren Müttern abgeholt werden, wird er unruhig. Dann bricht er Streit vom Zaun, wird aggressiv und laut. Später zieht er alleine von dannen.
“Wir wissen doch, dass niemand, der in Armut geboren wird, die Universität besuchen wird.”
Diese Aussage wird die Ministerin der Provinz Buenos Aires, María Eugenia Vidal, erst Anfang 2018 später vor dem Rotary Club treffen. Doch schon bei der Wahl Ende 2015 zeichnet sich ab, dass die Zukunftsaussichten für die Kinder aus der Villa 31 nicht rosiger werden würden.
Die Projekte der Voluntarios sin fronteras verfolgen vorwiegend ein Ziel: Den Kindern in den Elendsvierteln so früh wie möglich ein Umfeld zu bieten, das ihnen Lust macht, sich zu entwickeln. Einen Blick über den Tellerrand zu werfen und die Chance zu sehen, irgendwann einmal aus dem Milieu heraus zu finden.
So holen wir die Kinder schon im Alter von drei bis vier Jahren in kleine Projekte. Hier lernen sie grundlegende Fähigkeiten wie Ordnung, Kreativität oder wie man sich gegen Übergriffe wehrt. Später unterstützen wir sie beim Schulbesuch. Schritt für Schritt gehen sie gemeinsam mit ihren Freunden durch die für ihr Alter passenden Projekte. Das Ziel ist, sie bis zum Abschluss des Gymnasiums zu führen, besser noch in das Vorbereitungsjahr der Universität. Die Tatsache, dass die aktuelle Regierung den Kindern wenig bis gar keine Chancen auf eine bessere Bildung einräumt, spornt uns erst recht an.
Das Essen ist fertig
Wir bereiten für die Kinder ein Frühstück vor. Es ist sehr einfach, doch in nicht wenigen Fällen ihre einzige Mahlzeit an diesem Tag. Sie vertrauen sich uns an, wenn sie zu Hause Schwierigkeiten haben, Gewalt erfahren. Keine leichte Situation, weswegen die Freiwilligen auch regelmäßig für solche Situationen geschult werden.
Unsere Projekte und Weiterbildungen finanzieren sich aus Spendengeldern. Manchmal organisieren wir kleine Veranstaltungen oder Gewinnspiele. Gelegentlich rufen wir auch größere Events ins Leben. Der Erlös aus den Eintrittskarten fließt direkt an die Organisation. In diesem Jahr veranstalten wir eine “Schlemmer-Party”. Freiwillige aus aller Welt verkaufen typische Gerichte aus ihrer Heimat, dazu gibt es Pizza, Musik und jede Menge Informationen über unsere Arbeit in Buenos Aires.
Eine kleine Hand
Elf Uhr. Ich gehe in die Küche um Mate aufzubrühen. Mate cocido ist ein einfaches Getränk, das vor allem Kinder gerne mögen. In unserem Projekt können sie sich nun von den Schulaufgaben entspannen und zum Spielen übergehen. „Tutti-Frutti“ zum Beispiel, die argentinische Version von Stadt-Land-Fluss, bei der sich Trauben kleiner Kinder um mich bilden, weil sie Mitleid mit mir haben. Wir basteln Musikinstrumente aus Plastikflaschen und Sojabohnen. Oder wir zeichnen eine Landkarte, schreiben die Hauptstädte der Regionen hinein und malen die bedeutendsten Sehenswürdigkeiten Argentiniens dazu.
Gerade will ich die Vainillas auf die Teller legen, da spüre ich eine Hand in meiner. “Wo warst du letzten Sonnabend?”, fragt mein kleiner, cooler Ismael ganz leise, als es niemand sieht. Wir drücken uns sehr lange.
Das war eines unserer letzten Treffen. Erst knapp drei Jahre später sah ich Ismael wieder und traute meinen Augen kaum. Doch das ist der Stoff für die nächste Buenos-Aires-Geschichte….
Das ist absolut schön geschrieben. Ich finde nicht die richtigen Worte. Ich finde auch für andere Dinge nicht die richtigen Worte. thxalot
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